Samstag, 24. Oktober 2009

Indien: unity in diversity?

So, jetzt gibts mal ein Thema, das nicht zur Abstimmung stand, aber hier unbedingt reingehoert. Aus unserer deutschen oder auch europaeischen Perspektive erscheint Indien oft als ein Land wie jedes andere. Klar, es ist gross, ueberbevoelkert und fremd - aber doch ein Land wie viele andere auch.
Winston Churchill, als Indien noch Teil des britischen Kolonialreiches war, sagte einmal, dass Indien eine geografische Bezeichnung sei, so aehnlich wie ein Breitengrad oder der Aequator. Aber kein Land.

Nun, die britische Kolonialzeit ist seit ueber 60 Jahren vorbei und Churchill muss bei allen seinen Verdiensten und schlauen Worten (hat er nicht auch den "iron courtain" erfunden?) ja nicht nimmer Recht haben. Und schon gar nicht muss alles so sein wie vor mehr als einem halben Jahrhundert.
Traditionell war Indien fast nie als Zentralstaat organisiert, sondern in kleineren Fuerstentuemern, Koenigreichen - regional abgegrenzten Gebilden also, vielleicht vergleichbar mit der politischen Landschaft in Deutschland vor dem 19.
Jahrhundert. Die Briten haben da auch wenig daran geaendert, regiert wurde im wesentlichen damit, dass man sich die lokalen Herrscher zu Freunden gemacht hat oder diese kontrolliert hat. Indien waere auch viel zu gross gewesen, um es als kleines England militaerisch zu unterdruecken. Und wo wir gerade bei der Geschichte sind: Indien ist auch das erste Land der Welt, das von einem privaten Unternehmen regiert (d.h. ausgebeutet) wurde, der East India Company.
Aber zurueck zur Vielfalt: Aehnlich wie in Deutschland die Bundeslaender, so haben sich auch in Indien starke Bundesstaaten erhalten, die meinem Eindruck nach relativ viele Kompetenzen haben. Und - anders als in Deutschland - sind die Lebensbedingungen, kulturellen Hintergruende und Sprachen sehr unterschiedlich. Ein Bauer aus Bihar in Nordindien, dem aermsten Staat mit noch hoher Analphabetenrate, grosser Armut und schwacher Entwicklung der Wirtschaft wird sich wohl in Bangalore ueberhaupt nicht verstaendigen koennen. Weil kein Mensch hier die regionale Sprache aus Bihar spricht (ausser ein paar Zugreiste vielleicht) und der Bauer wohl weder Kannada (regionale Sprache hier) noch Englisch sprechen wird. Whow. Das heisst, die Leute koennen sich im eigenen Land oft nicht verstaendigen! Hindi, die neben Englisch offizielle Amtssprache, kann offiziell gut die Haelfte der Bevoelkerung sprechen, die Haelfte! Stellt euch mal Deutschland vor, wenn die Haelfte der Deutschen weder Deutsch noch Englisch sondern nur einen regionalen Dialekt sprechen kann!
Und das ist nur die Sprache. Unterschiede ziehen sich tief in den Alltag: Andere Feiertage, andere Goetter, anderes Essen (ja, es gibt DAS indische Essen naemlich ueberhaupt nicht), andere Hautfarbe. Und hier sind wir bei einem anderen wichtigen Punkt: Inder aus der Naehe von Tibet oder Bhutan sehen anders aus als Inder aus Karnataka. Und es gibt hier auch Rassismus - keinen gegenueber Auslaendern, oh nein. Rassismus gegenueber Indern mit dunklerer Hautfarbe, die sind traditionell eher minderwertig.

Und jetzt lassen wir die unterschiedlichen Religionen (zwischen denen es seit der Staatsgruendung schon oefters gewaltsame Konflikte gab), Bildungsniveaus, sozialen Schichten, Kasten usw. weg. Ich glaube die Message kommt auch so rueber: Die Inder sind verdammt unterschiedlich!
Und was ist mit der Einheit? Das finde ich total faszinierend, trotz aller Unterschiede, Gegensaetze und Konflikte habe ich das Gefuehl, dass sich die Menschen hier sehr stark mit "Ihrem" Indien identifizieren. Und stolz darauf sind, was sie erreicht haben, stolz auf die Stabilitaet in einer sehr instabilen Region der Welt (Tibet, Pakistan, Iran, Sri Lanka), stolz auf die Demokratie in einer Region der politischen Konflikte (alle Nachbarlaender ausser Bhutan) uns stolz auf ihre Vielfalt. Das heisst nicht, dass immer alles rund laeuft, aber insgesamt ist das doch ziemlich faszinierend.
Ein Satz, den mir eine Inderin zu dem Thema gesagt hat, drueckt sehr viel aus: "Weisst du, Nils, in 30 Jahren wird Europa vielleicht dort angekommen sein, wo Indien jetzt ist. Mit dem Unterschied, dass die kulturelle Vielfalt in Europa vielleicht nicht so gross ist und es weniger Konflikte gibt."
Vielleicht hat sie Recht.

6 Kommentare:

  1. Hey Nils,

    mmh, klingt schon interessant, aber ist es nicht komisch, dass die einen Inder diskriminiert werden und man sich doch als ein Land bezeichnet? Passt das unter einen Hut? Bezeichnen sich die Inder mit dunklerer Hautfarbe auch als Bewohner Indiens? Und bedeutet das, dass es kein typisches indisches Essen gibt, auch, dass es Regionen gibt, die nicht scharf essen oder ist wenigstens das 'typisch'? Und wurde von der Regierung mal versucht eine einheitliche Sprache einzuführen? Die Bürokratie zwischen verschiedenen Regionen stelle ich mir eher schwierig vor. Ist das so?

    Viele Grüße,

    Sarah

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  2. Hi,
    ja, irgendwie passt das nicht zu unserem Verstaendnis von Staat und Volk. Aber klar, jeder hier bezeichnet sich als Inder, egal wie dunkel die Hautfarbe. Und genauso wenig wie in Bayern jeder Ostfriese diskriminiert wird, so wird man hier mit dunkler Hautfarbe auch nicht automatisch diskriminiert. Aber so wie man in Deutschland mit Business-Outfit oft hoeflicher behandelt wird, so ist das hier mit hellerer Hautfarbe manchmal angeblich.
    Zum Essen: Klar gibts schon Gemeinsamkeiten, aber es gibt typische regionale Gerichte und im Sueden ist es auch weniger scharf angeblich. Aber natuerlich fuer deutsche Geschmaecker immer noch scharf...
    Also die offiziellen Amtssprachen sind schon Hindi und Englisch - und die beiden Sprachen lernt auch jeder in der Schule. Theoretisch. Und das heisst noch lange nicht, dass es dann jeder Erwachsene auch noch kann. Aber wenn man die beiden Sprachen kann, kommt man meistens irgendwie zurecht, zumindest findet man notfalls problemlos jemanden, der uebersetzen kann. Dass die Buerokratie da schwer ist, stelle ich mir auch so vor. Wobei auf hoeherer Ebene sicherlich alle Englisch sprechen, zumindest Grundlagen. Wobei ich das nicht weiss, vermute ich nur.
    Hier in Bangalore ist es aber vergleichsweise problemlos, weil fast alle Englisch koennen - sehr praktisch fuer mich, angeblich haette ich es in Nordindien schwerer als hier...

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  3. Wirklich wieder ein sehr lesenswerter Bericht! Bei so vielen Regionen ist der Separatismus wohl eine der Gefahren für Indien. Gibt es Bestrebungen einiger Regionen sich abzutrennen?
    Sind offizielle Dokumente mehrsprachig (Hindi, Englisch und die jeweilige Regionalsprache)? Bei dieser Sprachenvielfalt muss es Millionen Übersetzer geben? Halten sich die regionalen Sprachen oder werden sie von Hindi und Englisch allmählich verdrängt?
    Anderes Thema: diese Tage habe ich gelesen, dass es wieder zu heftigen Gefechten mit den maoistischen Rebellen gekommen ist. Wie ist die aktuelle Lage? Was wollen die Rebellen? Oder sind das auch Separatisten?

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  4. Also als Gefahr wuerde ich das nicht bezeichnen, ich glaube der Patriotismus ist trotz allem ziemlich gross. Auch in den Grenzregionen. Ich weiss zumindest von keiner Region, die sich abtrennen wollte - wobei das natuerlich nicht heisst, dass es nicht auch regionale Identitaeten gibt!
    Wie das mit dem Uebersetzen usw. ist, weiss ich ehrlich gesagt nicht. Ich wuere sagen, die regionalen Sprachen werden nicht ersetzt, aber ergaenzt. Und oft hoere ich englische Woerter bei Leuten raus, die sich in einer anderen Sprache unterhalten. Zahlen zum Beispiel.
    Also zu den Naxaliten: Das sind Rebellen, vor allem in armen laendlichen Gegenden, die gegen den Staat kaempfen. Wobei sie sich wohl eher ueber ihre Opposition gegen den Staat definieren als ueber ein gemeinsames Ziel. Zur Zeit beginnt eine ueber mehrere Jahre geplante militaerische Offensive gegen die Naxaliten, die immer wieder durch Anschlaege gegen zum Beispiel die Polizei auf sich aufmerksam machen. Da tobt aber auch eine Propagandaschlacht, deswegen bin ich mir bewusst dass alle Infos hier gefaerbt sind. Die Frage, die sich fuer mich stellt, ist ob das Militaer eine gute Loesung im Kampf gegen verzweifelte Rebellen ist, oder ob man nicht lieber mal etwas in Bildung und Entwicklung der betroffenen Regionen investieren sollte. Und funktionierende Institutionen wie Schulen die etwas taugen und eine Polizei die mehr tut als sich bestechen lassen. Die Diskussion ist mir einfach zu stark auf "Gewalt muessen wir mit noch mehr Gewalt beantworten" beschraenkt...

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  5. Werden die Naxaliten vom Ausland (Pakistan) unterstützt? Kontrollieren sie ganze Landstriche/Regionen?
    Sprechen deine Kollegen mehrere Sprachen, d.h. Hindi, Englisch und einen regionalen Dialekt? Wie unterhalten sie sich untereinander?
    Warst du eigentlich schon in Goa?

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  6. Also soweit ich weiss werden die Naxaliten nicht vom Ausland unterstuetzt. Zumindest wird es keinem anderen Land vorgeworfen. Die Bewegung ist auch schon jahrzehnte alt, nur jetzt gibt es eben mal wieder groessere Konflikte. Die kontrollieren wohl einige laendliche Regionen in Zentralindien, aber keine ganzen Bundesstaaten oder so.
    Meine Kollegen sprechen Englisch miteinander, koennen aber auch Hindi (ich glaube bis auf eine) und natuerlich mindestens eine regionale Sprache sprechen. Wahrscheinlich mehrere eher...
    In Goa war ich noch nicht, aber etwa 150 km weiter suedlich ein Wochenende am Strand. Superschoen da, kann ich nur empfehlen!

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